Am Mittwoch, den 23. März 2005, haben wir, Christa und ich, den ganzen Tag gefilzt. Den dicken Bauch einfilzen, solange er noch da ist, war das Motto. Die gesamte Aktion war durchwirkt von ziehenden Schmerzen in meinem Unterleib. Immer wieder musste ich meine Filzpose verlassen, um stehend tief und konzentriert durchzuatmen.

„Soll das jetzt noch tagelang so weitergehen?“, überlegte ich mir.

Am Abend war mein Bauch eingefilzt, als Hülle noch etwas dünnhäutig an manchen Stellen, aber als Provisorium ganz gelungen. Zudem waren Zeit und Kraft ausgeschöpft. Ein gemütliches Abendessen von Thomas rundete unsere Aktion ab.

Anschließend folgte ich meinem inneren Impuls, mich kurz bei Chris, unserer Hebamme zu melden, um mein Befinden durchzugeben und ihre Meinung zu hören.

„Geh‘ zu Bett und ruh‘ dich aus!“

Es fiel mir nicht schwer, dem nachzugehen, ich war satt, müde und etwas unruhig.

Aufgewacht bin ich so gegen 1.30 Uhr an einem Geräusch in meinem Leib, ein gedämpftes Aufspringen, ähnlich dem Eidotter, der in die Schüssel gleitet. Möglicherweise bin ich aber auch an dem warmen Nass zwischen meinen Schenkeln aufgewacht. Unmissverständlich kam die Meldung aus meinem Kopf: „Blasensprung!“ – was für uns gleichbedeutend war mit: „Jetzt geht’s los!“

Wir zogen um ins geräumige Wohnzimmer, wo der gepackte „Ernstfallkorb“ seit Tagen auf seinen Einsatz wartete. Thomas feuerte den Ofen an, während ich Malerfolie, meterlanges weisses Linnen und Matratze auslegte.

Hier sollte „Ort des Geschehens“ werden, so haben wir uns das in Gedanken immer wieder vorgestellt. Die Duftöle standen ausgewählt auf dem Schrank, der CD-Stapel thronte auf der Anlage, die Teelichter waren verteilt, der Karabinerhaken samt Tragetuch für „Gewichtiges“ sicher installiert. Und mittendrin rollte der Petziball vor sich hin.

Die kommenden eineinhalb Stunden war ich einerseits damit beschäftigt zu beobachten, was in mir vor sich ging, und andererseits damit, eine geeignete Körperhaltung einzunehmen, die es mir ermöglichte, das Zusammenziehen in meinem Leib zu tragen.

Thomas hat die Phasen zwischen meinen Wehen zeitlich gemessen, alle fünf Minuten starke Wehen, zumindest für unsere damalige Vorstellung. Wir beschlossen jetzt unsere Hebamme anzurufen. Um 3.50 Uhr kam Chris bei uns an.

Anna über Ball im Vierfüssler, gute Wehe alle 7 bis 10 Minuten, fötale Herzfrequenz 130 spm, Muttermund 2 cm, so steht es im Geburtsprotokoll.

Mir ist kotzübel, meine Wanderungen zum Klo beginnen und der blosse Gedanke an Duftöl tut sein Übriges. Einschätzung unserer Hebamme:

„Zu viel Feuer im Ofen, so weit ist es noch nicht. Versucht nochmal zu schlafen!“

Wir verabschieden uns von unserer Hebamme und ziehen wieder um ins Schlafzimmer, obwohl mir die Vorstellung zu schlafen zunächst irrwitzig erscheint. Ich versuche in mir ruhig zu werden und der Schlaf kommt über uns.

Morgens um 10 Uhr war es wieder so weit. Ein Anruf bei Chris und um 10.30 Uhr war sie bei uns.

Fötale Herzfrequenz 130-140 spm vor, während und nach der Wehe, Muttermund 6 cm, laut Protokoll.

Ich höre die Herzschläge unseres Kindes auf dem Dopton, und die Kraft und die Beständigkeit beeindrucken mich tief. Sie bilden allmählich einen Kontrast zu meinem eigenen Empfinden. Die erleichtern- den Haltungen werden weniger, und meine eigenen Ideen zur Linderung auch. Um 11 Uhr gingen wir Duschen, entnehme ich dem Protokoll – an manchen Stellen sind kleine Lücken in meinem Erinnerungsvermögen. Nach dem Duschen ist das Druckgefühl auf meine Gedärme so stark, daß damit unsere Wanderungen zwischen Schlafzimmer, Bad und Klo ein Ende nehmen. Zu Dritt auf 1,68 qm.

Sitzenbleiben. Hierbleiben.
Nichts mehr Wollen –
Halt, doch Ja, Aussteigen!

Während in mir die Enge zu toben beginnt, springt im Flur der Anrufbeantworter an, extra umgestöpselt vom Wohnzimmer in den Flur, wohlgemerkt: „Wollte nur nochmal fragen, ob ihr die Wickelauflage jetzt braucht?“ – „Ja, brauchen wir. Und tauschen wir, deine Sorgen gegen meine Sorgen?“, möcht‘ ich rufen.

Mein Blick schweift gehetzt vom Anrufbeantworter zur Obi-Baumarkt-Tüte auf die Glühbirnen, bleibt kurz hängen am Staubtuch und irrt wieder zurück in mich hinein. Alles so hübsch vorbereitet im Wohnzimmer, Duftlampen, Kerzen & Co und ich hocke, krabble, stehe, knie, beuge, stütze mich hier vor und auf das Klo und Thomas. Spätestens jetzt möchte ich einfach gehen…

In mir bahnt sich eine Sturmflut an. Abwechselnd hänge ich mich an Thomas oder stemme mich gegen die Wände der 1,68 qm. Sie werden mir eigentümlich vertraut, begrenzen und halten mich. Während ich innerlich die Orientierung zu verlieren glaube orten sich zumindest meine Gliedmassen auf dem nicht mehr ganz so stillen Örtchen.

Tönen.
Raus-Tönen.

„Versuch‘ nach innen zu tönen“, unterstützt mich Chris. Ich weiß nicht mehr, ob ich weiß, was innen ist, konzentriere mich auf das, was innen sein könnte und schicke die Töne nach innen und unten – runter.

12.07 Uhr: Zeit für Verstärkung. Kathrin, die zweite Hebamme, kommt hinzu und platziert sich mitsamt Wecker auf den Flur zwischen Obi- Baumarkt-Tüte und uns.

Fötale Herzfrequenz 130 spm:
… schuschuuuh schuschuuuh schuschuuuh schuschuuuh schuschuuuh … – der kraftvolle Rhythmus dringt in mich ein.

Die Wehenpausen werden länger. Chris schlägt einen Ortswechsel vor, zurück ins Wohnzimmer.

Knien.
Hocken.
Im Tuch Hängen.
Vierfüssler.

Ich werde zittrig, meine Kräfte drohen mich zu verlassen und im Kopf stauen sich Gedanken und Flüssigkeiten.

Resignation. Stillstand. Rückzug.
Erstarren. Verharren. Zusammenziehen.

Ein mir altbekanntes, wohlvertrautes Muster nimmt Raum ein. Ein Film beginnt sich in mir abzuspulen. Schemenhaft tauchen Grenzsituationen aus meiner Vergangenheit auf.

Abgründe tun sich auf.
„Verdammt, warum hat mir das keiner erzählt?“, denke ich.

Die Wehenabstände verlängern sich, bis keine Wehe mehr kommt. Wir fangen erneut zu wandern an: Wohnzimmer, Klo, Schlafzimmer. Chris macht einen Polaritätsausgleich, der sehr wohltuend ist. Meine Angst wird greifbar, spürbar für mich.

Reissen,
Platzen,
Bleiben,
Durchgehen.
„Ich will…!“,
kontrahiert es in meinem Kopf.

Kathrin schlägt einen Einlauf vor. „Also gut, ein nächster Schritt, auch das nehme ich noch mit – alles inklusive!“, denke ich. Der Einlauf bringt nach kürzester Zeit meine Gedärme in Bewegung, reißt die letzten Hemmschwellen nieder. Das letzte Stück Verstand gibt sich ihm hin.

Von aussen betrachtet, laut Protokoll: Anna sitzt Einlauf ab. Die Wehen sind zurückgekehrt, präsent und kräftig.

Draussen knallt der Fussball gegen die Hauswand. Es ist ca. 15 Uhr. Der Kopf unseres Kindes sitzt laut Protokoll auf dem Beckenboden – und ich auf dem Gebärhocker vor dem Klo.

Die Herztöne unseres Kindes über das Dopton dringen 120-130 spm rhythmisch in mich ein, wie ein Lobgesang des Himmels an die Schöpfung. Chris führt meine Hände zwischen meine Beine, ich kann etwas Wulstiges tasten. „So fühlt sich also der Kopf unseres Kindes an“, denke ich erstaunt.

Noch einmal stemme ich Thomas gegen die Wand. Draussen knallt der Fußball an die Wand. Geburten finden nachts statt, wenn alles schläft – zumindest in meiner Vorstellung.

15.28 Uhr: Anna Kniestand
15.31 Uhr: Kind Kopfstand
15.34 Uhr: Schieben.

Blindheit.
Taubheit.
Dann eine Wellenbewegung,
Knie und Fersen gleiten spürbar aus mir heraus.

Es ist vollbracht!

Geburten finden zuhause statt.
Zum Glück nicht nur in meiner Vorstellung.

Namen (ausser Hebammen) geänder

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